BVerfG, Beschluß vom 4. Juli 2003 – 1 BvR 834/02

Die nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde betrifft die vom BVerwG (Urteil vom 21. Februar 2002 – 3 C 16.01 –, siehe dort) abgelehnte verwaltungsrechtliche Rehabilitierung eines Gutsbesitzers, der als Ortsgruppenleiter der NSDAP von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet und 1947 im Lager des NKWD den Tod fand. Sein landwirtschaftliches Anwesen wurde auf der Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 124 enteignet. Wegen der Verhaftung und der Lagerhaft wurde er 1995 von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert.

Wortlaut der Entscheidung

Verantwortliche Richter: 

Dr. h.c. Renate Jaeger, Richterin am BVerfG
Dr. Dieter Hömig, Richter am BVerfG
Prof. Dr. Brun-Otto Bryde, Richter am BVerfG

Anlaß und maßgeblicher Inhalt der Entscheidung: 

Die nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde betrifft die vom BVerwG (Urteil vom 21. Februar 2002 – 3 C 16.01 –, siehe dort) abgelehnte verwaltungsrechtliche Rehabilitierung eines Gutsbesitzers, der als Ortsgruppenleiter der NSDAP von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet und 1947 im Lager des NKWD den Tod fand. Sein landwirtschaftliches Anwesen wurde auf der Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 124 enteignet. Wegen der Verhaftung und der Lagerhaft wurde er 1995 von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert.

Verstöße wegen der Ablehnung der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung der Enteignung des Gutes gegen Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG hat die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG verneint, weil sie für vermögensschädigende Maßnahmen, die einer ausländischen Staatsgewalt zuzurechnen seien, nicht herzuleiten gewesen seien.

Im übrigen habe die Auffassung der Verwaltungsgerichte, daß die Eltern des Beschwerdeführe im Hinblick auf die Regelung des § 1 Abs.1 S. 3 VwRehaG nicht verwaltungsrechtlich zu rehabilitieren seien, das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt, weil das BVerwG die Regelung im Einklang mit Wortlaut, Sinn, Zweck und Entstehungsgeschichte der Klausel in der Weise ausgelegt habe, daß damit eine Umgehung des in § 1 Abs. 8 Buchst. a, 1. Halbs. VermG enthaltenen Restitutionsausschlusses durch eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung umgangen werden sollte. 

Schließlich sei auch die Ungleichbehandlung von auf der Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 124 enteigneten und Betroffenen, deren Vermögenswerte durch ein Sowjetisches Militärtribunal eingezogen worden seien, was eine Rehabilitierung durch Organe der Russischen Föderation gerechtfertigt. Dies ergebe sich daraus, daß die UdSSR anläßlich der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung die Anerkennung der Gesetzlichkeit, Rechtmäßigkeit und Legitimität ihrer Maßnahmen als Besatzungsmacht gefordert habe. Damit habe sie Unrechtsvorwürfe durch deutsche Staatsorgane verhindern wollen. Daneben trete, daß die DDR ein Verbot, Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage rückgängig zu machen, gefordert habe.

Warum die Entscheidung unvertretbar ist: 

Die 2. Kammer des Ersten Senats hat zwar Verstöße gegen die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs-1 GG mit Recht verneint, weil sie weder örtlich (ratione loci) noch zeitlich (ratione temporis) in der SBZ galten. Grundlegende Rechtsfehler enthalten aber die Begründungen, mit denen die Kammer auch die Verletzung des Willkürgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) verneint.

Zunächst ist es nicht vertretbar, wenn die Kammer darlegt, § 1 Abs. 8 Buchst. a, 1. Halbs. VermG enthalte ein Restitutionsverbot, das durch eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung nicht umgangen werden sollte, weshalb § 1 Abs. 1 S. 3 VwRehaG auch sie für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage ausschließe. § 1 Abs. 8 Buchst. a, 1. Halbs. VermG enthält aber schon nach seinem Wortlaut eindeutig kein Rückgabeverbot. § 1 VermG regelt ausschließlich den positiven und den negativen Anwendungsbereich des Gesetzes, nicht aber das Bestehen oder Nichtbestehen vermögensrechtlicher Ansprüche. Dies ist erst Regelungsgegenstand der §§ 3 ff. VermG. Deshalb enthält § 1 Abs. 8 VermG lediglich vier Fallgruppen, die an sich in den Anwendungsbereich des Vermögensgesetzes fallen, dort aber wieder ausgenommen wird, weil für sie vermögensrechtliche Ansprüche anderweitig, etwa im Ausgleichsleistungs- oder im Vermögenszuordnungsgesetz, geregelt sind. § 1 Abs. 8 VermG verhindert damit lediglich, daß es zu keinen doppelten Wiedergutmachungsansprüchen – nach dem Vermögensgesetz und nach anderen Rechtsgrundlagen – kommt.

Im Vermögensgesetz ist für die Fallgruppen in § 1 Abs. 8 VermG zwingend auch deshalb kein Rückübertragungsverbot enthalten, weil der Gesetzgeber für sie außerhalb des Vermögensgesetzes wiederholt eine Rückgabe vorgesehen hat. Dies gilt nach § 5 Abs. 1 AusglLeistG zunächst für auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage enteignete bewegliche Sachen. Auch die Regelungen über den von land- und forstwirtschaftlichen Flächen in § 3 Abs. 5 AusglLeistG, die damit die Rückübertragung von unter Besatzungshoheit entzogene Flächen an die Alteigentümer ermöglichen, stehen der Annahme, es habe ein Restitutionsverbot gegeben, entgegen. Gleiches gilt für die Fallgruppe der Enteignungen von öffentlich-rechtlichen Körperschaften (§ 1 Abs. 8 Buchst. d VermG), weil für sie Rückgabeansprüche nach § 11 Abs. 1 S. 1 VZOG bestehen.

Mehr noch: Die Annahme eines Rückgabeverbotes steht auch in offenkundigem Widerspruch zu den Feststellungen des BVerfG im sog. Bodenreformurteil vom 23. April 1991 (BVerfGE 84, 90 ff.). Dort wird das in Nr. 1 S. 1 der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 (GE) enthaltene Verbot, Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage nicht mehr rückgängig zu machen, gerade nicht als allgemeines Rückgabeverbot verstanden, sondern lediglich als Verbot, diese Enteignungen nicht mehr rückgängig zu machen und ihre Rechtsfolgen durch eine Rückgabe umfassend zu bereinigen. Nur eine derartige Rückgabe, die ihr entgegenstehende Interessen, etwa den Schutz redlicher Erwerber oder überwiegender öffentlicher Nutzungsinteressen, nicht berücksichtigt, sollte durch Nr. 1 S. 1 GE ausgeschlossen werden (vgl. BVerfGE 84, 90, 121). Dagegen weist das Bodenreformurteil auf die in Nr. 1 S. 4 GE ausdrücklich vorbehaltenen Ausgleichsleistungen hin, für deren Ausgestaltung es von seiten der UdSSR und der DDR keine Vorgaben gegeben habe (BVerfGE 84, 90, 121, 127, 129.). Deshalb hält das Bodenreformurteil auch einen Rückerwerb der besatzungsbezogen enteigneten Vermögenswerte für zulässig (BVerfGE 84, 90, 126 f., 131; ebenso: BVerfGE 94, 12, 46). Demzufolge steht die Behauptung eines allgemeinen Rückgabeverbots auch in klarem Widerspruch zu den Feststellungen, die im Bodenreformurteil aufgrund einer eigens durchgeführten Beweisaufnahme getroffen wurden.

Da der Betroffene durch die auf den SMAD-Befehl Nr. 124 gestützte Schädigung seines Vermögens einer politischen Verfolgung ausgesetzt war, war Verfahrensgegenstand zudem tatsächlich keine Enteignung i.S.v. § 1 Abs. 8 Buchst. a, 1. Halbs. VermG, sondern ein verfolgungsbedingter Entzug von Vermögenswerten i.S.v. § 1 Abs. 1 S. 1 VwRehaG, § 1 Abs. 8 Buchst. a, 2. Halbs. VermG. Die Annahme einer Enteignung steht ebenfalls in offenkundigem Widerspruch zu geltendem Recht, so daß die Kammer das Urteil des BVerwG vom 21. Februar 2002 auch deshalb als Willkürentscheidung hätte beurteilen müssen (vgl. Besprechung des Urteils des BVerwG vom 21. Februar 2002 – 3 C 16.01 –). Da das BVerwG sein Urteil aber begründet hat, hätten in der Verfassungsbeschwerde eingehend dargelegt werden müssen, weshalb ein offenkundiger Widerspruch der Entscheidungsgründe zum geltenden Recht bestand. Dies allerdings dürfte unterblieben sein, so daß die Kammer keine Veranlassung hatte, darauf näher einzugehen, sondern sich darauf zurückziehen konnte, auf die Begründung des BVerwG zu verweisen, die sich auf Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entscheidungsgeschichte des § 1 Abs. 1 S. 3 VwRehaG berufen hatte.

Soweit die Kammer schließlich die unterschiedliche Handhabung der Rechtsprechung des BVerwG von Vermögenseinziehungen durch Sowjetische Militärtribunale, die durch Organe der russischen Föderation rehabilitiert worden sind, einerseits und durch deutsche Organe unter sowjetischer Besatzungshoheit andererseits mit der Aussage gerechtfertigt hat, die UdSSR habe anläßlich der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung gefordert, deutsche Staatsorgane dürften ihr wegen ihrer Maßnahmen unter ihrer Besatzungshoheit keine Unrechtsvorwürfe unterbreiten und der Bundesgesetzgeber habe entsprechend dieser Einschätzung entscheiden dürfen, ist auch dies unvertretbar. Diese Angabe steht in offenkundigem Widerspruch zu den Vereinbarungen in der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Regierungen vom 15. Juni 1990, deren Inhalt ein Vertreter der UdSSR am 12. September 1990 zustimmend zur Kenntnis genommen hat, zu den Feststellungen des BVerfG im Bodenreformurteil vom 23. April 1991 und zu diversen gesetzlichen Regelungen, mit denen auch eine Wiedergutmachung für besatzungsbezogene Maßnahmen vorgesehen sind.

Nr. 1 GE enthält nicht nur die Vereinbarung, daß Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage nicht mehr rückgängig gemacht werden dürfen. Vielmehr hat sich die Bundesregierung in Nr. 1 S. 4 GE auch Ausgleichsleistungen vorbehalten. Ebenso wie eine durch Nr. 1 S. 1 GE ausgeschlossene Rückgängigmachung erfolgen Ausgleichsleistungen aber nur deshalb, weil die entschädigungslosen, besatzungsbezogenen Enteignungen als Unrecht beurteilt werden. Gleiches gilt für die in Nr. 9 GE vereinbarte Rehabilitierung von strafrechtlichen Vermögenseinziehungen, die sich auch auf solche Maßnahmen unter sowjetischer Besatzungshoheit beziehen. Sieht aber bereits die Gemeinsame Erklärung vor, daß es dem vereinten Deutschland möglich sein soll, Wiedergutmachungsleistungen für Unrechtsmaßnahmen unter Besatzungshoheit vorzusehen, wird mit deshalb erfolgenden Wiedergutmachungsentscheidungen die Rechtswidrigkeit der unter Besatzungshoheit verübten Maßnahmen festgestellt. Damit wird der UdSSR als Besatzungsmacht ebenfalls ein Unrechtsvorwurf unterbreitet. Da die UdSSR aber keine Einwendungen gegen die deutsch-deutschen Vereinbarungen in der Gemeinsamen Erklärung hatte, ist es deshalb denknotwendig ausgeschlossen, daß sie mit der Forderung, das vereinte Deutschland müsse die Gesetzmäßigkeit, Rechtmäßigkeit und Legitimität ihrer Maßnahmen zur Zeit der sowjetischen Besatzung anerkennen, verhindern wollte, daß deutsche Staatsorgane im Rahmen wiedergutmachungsrechtlicher Entscheidungen deren Rechtswidrigkeit feststellen und damit die Besatzungsmacht mit einem Unrechtsvorwurf konfrontieren.

Diese Einschätzung liegt auch der bundesdeutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung zugrunde. Der Bundesgesetzgeber hat das Ausgleichsleistungsgesetz erlassen, das nach § 1 Abs. 1 S. 1 AusglLeistG Ausgleichsleistungen für entschädigungslose Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage, also für rechtsstaatswidrige Maßnahmen vorsieht. Darüber hinaus gelten das Straf- und das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz auch für im Zeitraum vom 8. Mai 1945 bis zum 7. Oktober 1949 verübte Maßnahmen der politischen Verfolgung sowie Willkürakte, also für wesentlich rechtsstaatswidrige Unrechtsakte während der sowjetischen Besatzungsherrschaft. Dabei erfassen die Rehabilitierungsgesetze sowohl Unrechtsakte mit vermögensschädigenden Maßnahmen als auch Zugriffe auf andere Rechtsgüter. Diese Gesetze sind jeweils von der Bundesregierung entworfen worden. Insofern ist es ausgeschlossen, daß sie während der Verhandlungen mit der Sowjetunion zur der Einschätzung gelangte, sie sei gehindert, eine Gesetzgebung zur Wiedergutmachung besatzungshoheitlicher Unrechtsakte zu erlassen.

Die Aussage der Kammer steht schließlich auch in offenem Widerspruch zu den Feststellungen im Bodenreformurteil des BVerfG vom 23. April 1991. Dort wurde ausdrücklich betont, daß sich die Bundesregierung Ausgleichsleistungen für das Unrecht der besatzungsbezogenen Enteignungen vorbehalten habe, daß es von seiten der UdSSR und der DDR keine Vorgaben für deren Ausgestaltung gegeben habe und daß sie deshalb auch einen Rückerwerb vorsehen könnten. Der Präsident und Vorsitzende des Ersten Senats des BVerfG, Prof. Dr. Roman Herzog der maßgeblich am Bodenreformurteil mitgewirkt hat, hat denn auch in einer Publikation dargelegt, mit der Forderung nach Anerkennung der Gesetzmäßigkeit, Rechtmäßigkeit und Legitimität ihrer Maßnahmen habe die UdSSR nur die für abziehende Besatzungsmächte übliche Indemnität eingefordert, mit der bundesdeutsche Schadensersatzansprüche wegen des verübten Unrechts gegen die Sowjetunion als Siegermacht ausgeschlossen werden sollten (Herzog, in: Sobotka, Wiedergutmachungsverbot?, Die Enteignungen in der ehemaligen SBZ zwischen 1945 und 1949,  S. 153 ff.).

Die allein das völkerrechtliche Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion betreffende Indemnitätsforderung rechtfertigt die von der Kammer geprüfte Ungleichbehandlung von durch die SMT und durch deutsche Organe verübte Vermögensschädigungen jedoch offenkundig nicht.