Wortlaut der Entscheidung
Verantwortliche Richter:
Jürgen Zöllner, Vorsitzender Richter am LG
Thomas Schäfer, Richter am LG
Helga Ruland, Richterin am LG
Anlaß und maßgeblicher Inhalt der Entscheidung:
Der Beschluß betrifft einen nach dem sächsischen Volksentscheid vom 30. Juni 1946 ergangenen Enteignungsvorschlag einer sächsischen Landeskommission, mit dem dem Inhaber eines Unternehmens zur Last gelegt worden war, sich nach Maßgabe vonZiff. 2 lit. d der von der Landesverwaltung Sachsen, vom Block der antifaschistischen Parteien, vom FDGB erlassenen Richtlinien zum Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes schuldig gemacht zu haben. Dieser Vorschlag ist durch den sächsischen Volksentscheid vom 30. Juni 1946 bestätigt.
Das LG Chemnitz hat die darauf gerichteten Rehabilitierungsanträge abgewiesen, weil es die Behauptung aufgestellt hat, die zur Rehabilitierung gestellten Maßnahmen seien nicht strafrechtlicher Natur i.S.v. § 1 Abs. 5 StrRehaG gewesen. Dies stützt die Kammer zunächst auf die weitere Behauptung, der Betroffene sei von der Landeskommission lediglich den Kategorien der aktivistischen Nazis zugeordnet worden. Sie habe gegen den Betroffenen aber keinen individuellen Schuldvorwurf erhoben. Auch könne von einem Strafzweck der Maßnahmen keine Rede sein. Vielmehr habe der historische Gesetzgeber der Enteignung lediglich Tür und Tor öffnen wollen.
Warum die Entscheidung unvertretbar ist:
Die Ablehnung der Rehabilitierung des Betroffenen durch die Kammer des LG Chemnitz beruht ausnahmslos auf aktenwidrigen Feststellungen. Sie stehen somit in offenem Widerspruch zum Inhalt der Dokumente in der maßgeblichen Gerichtsakte. Die Ablehnung beruht damit auf Willkür.
Die sächsischen Richtlinien zum Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern enthalten insgesamt 15 individuelle Schuldtatbestände. Sie sind in drei Tatbestandsgruppen – 1. Naziverbrecher, 2. aktivistische Nazis, 3. Kriegsinteressenten – unterteilt, die jeweils mehrere, mit kleinen Buchstaben gekennzeichnete, individuelle Schuldtatbestände umfassen. Weil die Kommission den Enteignungsvorschlag mit der Ziff. 2 lit. d der Richtlinien begründet hat, hat sie jeweils auf die mit diesen Buchstaben bezeichneten individuellen Schuldtatbestände und nicht auf bloße Kategorien ohne individuellen Schuldtatbestände verwiesen. Der gegen den Betroffenen erhobene individuelle, nachweislich aber falsche Schuldvorwurf hat gelautet, er sei als aktivistischer Nazi schuldig, weil er Mitglied der SA, des NSKK oder des NSFK vom Truppführer oder Funktionär gleichen Ranges aufwärts gewesen sei. Damit ist die Behauptung der Kammer, der Betroffene sei lediglich einer (unspezifischen) Kategorie zugeordnet worden, offenkundig unzutreffend.
Erkennbar unrichtig ist dabei auch die Behauptung der Kammer, die Richtlinien zum sächsischen Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes hätten der Landeskommission gar nicht vorgelegen. Soweit sie sich darauf beruft, der Landesvorsitzende der LPD habe im Schreiben vom 24. April 1946 an die sächsische Landesverwaltung bemängelt, daß den Kommissionen keine Richtlinien vorgelegen hätten, auf deren Grundlage sie zu entschieden hätten, ist diese Begründung unhaltbar. Über die individuellen Schuldtatbestände der Richtlinien haben sich die antifaschistischen Parteien mit der Landesverwaltung erst am 30. April 1946 verständigt. Erlassen worden sind die Richtlinien sogar erst am 21. Mai 1946. Am selben Tag wurden auch erst 10 Landeskommissionen eingesetzt, die über die Schuld von Unternehmern nach Maßgabe der individuellen Schuldvorwürfe entscheiden sollten. Das Schreiben des LPD-Landesvorsitzenden Kastner konnte sich daher noch gar nicht auf die erst seit dem 21. Mai 1946 geltende Rechtslage und die seitdem erfolgten Entscheidungen beziehen. Vielmehr befaßte es sich mit Entscheidungen der bereits aufgrund des SMAD-Befehls Nr. 124 eingesetzten Sequesterkommissionen, die eigentlich nur befugt waren, über die Beschlagnahme von Unternehmen zu entscheiden, in Sachsen aber in vielen Fällen willkürlich Unternehmen auch bereits auf Enteignungslisten gesetzt haben, um so eine Entscheidung der Landeskommissionen auf der Grundlage der erst am 21. Mai 1946 in Kraft getretenen individuellen Schuldtatbestände der Richtlinien zum umgehen. Im übrigen hat sich die Landeskommission in ihrer Entscheidung vom 25. Mai 1946 ausdrücklich auf den Tatbestand in Ziff. 2 lit. d der Richtlinien bezogen. Dies wäre der Landeskommission nicht möglich gewesen, wenn ihr die Richtlinien, wie die Kammer behauptet, nicht vorgelegen hätten. m
Der von der Landeskommission erhobene Schuldvorwurf läßt sich erkennbar auch nicht durch die Tatsache in Frage stellen, daß Sequesterkommissionen vor Erlaß der Richtlinien bereits Unternehmen auf endgültige Enteignungslisten gesetzt haben, wie die Kammer aktenwidrig behauptet. Dieser Umstand belegt lediglich, daß die Sequesterkommissionen seinerzeit in Einzelfällen rechtsmißbräuchlich nicht nur über die Beschlagnahme, sondern auch über die Enteignung entschieden haben, um so eine individuelle Prüfung durch die Landeskommissionen zu vermeiden. Haben aber nicht die Sequesterkommissionen, sondern die Landeskommissionen auf der Grundlage der Richtlinien entschieden, dann wird der individuelle Schuldvorwurf der Landeskommission durch eine diese Fälle gar nicht betreffende anderweitige Entscheidungspraxis der Sequesterkommissionen nicht in Frage gestellt.
Der erhobene Schuldvorwurf läßt sich auch nicht dadurch bestreiten, daß er von der Landeskommission zunächst nur als Vorschlag erlassen worden ist. Er ist nämlich am 30. Juni 1946 pauschal durch den sächsischen Volksentscheid bestätigt und damit rechtswirksam geworden. Dem steht der von der Kammer erwähnte Umstand, daß es in anderen Fällen Änderungen auf den Enteignungslisten gegeben habe, erkennbar nicht entgegen.
Den Strafzweck der Richtlinien bestreitet die Kammer zunächst mit der nicht begründeten Behauptung, die antifaschistischen Parteien hätten sich mit der Landesverwaltung nicht darüber verständigt, daß die Richtlinien Straftatbestände hätten darstellen sollen. Dazu berücksichtigt die Kammer mit keinem Wort die in den Akten befindlichen Dokumente von Vertretern sämtlicher Parteien (SED, LPD und CDU), aus denen sich der vereinbarte Strafcharakter zweifellos ergibt und in denen auch erläutert wird, weshalb es insofern zu einem Sinneswandel bei der SED gegeben hat. Ebenso unerwähnt bleibt, daß die Landesverwaltung Sachsen in mehreren offiziellen Dokumenten zur Vorbereitung des Volksentscheides ausdrücklich den spezifischen Strafcharakter der Maßnahmen unterstrichen hat. Entsprechende Dokumente gibt es auch von den antifaschistischen Parteien und speziell auch von der SED. Und schließlich läßt die Kammer unerwähnt, daß die Richtlinien selbst als deren Zweck beschreiben, sie richteten sich ausschließlich gegen Naziverbrecher, aktivistische Nazis und Kriegsinteressenten, die zuvor durch individuelle Handlungen bestimmt worden waren. Damit haben die Richtlinien selbst klar zum Ausdruck gebracht, daß sie der Vergeltung für die zuvor beschriebenen Unrechtshandlungen dienen sollten. Dies gilt erst recht, weil die Richtlinien außerdem betonen, es handele sich um keine wirtschaftlichen Maßnahmen.
Soweit die Kammer – offenbar im Hinblick auf die in den Akten befindlichen Dokumente mit Stellungnahmen von Vertretern der antifaschistischen Parteien – die Behauptung aufgestellt hat, nur Teile der Beteiligten hätten den Strafcharakter der Richtlinien gewollt, steht dies in offenkundigem Widerspruch zu den Tatsachen, daß die Richtlinien von sämtlichen Vorsitzenden der antifaschistischen Parteien, dem Präsidenten und Vizepräsidenten der Landesverwaltung und dem Vorsitzenden des FDGB unterzeichnet worden sind und daß die Landesverwaltung in mehreren amtlichen Dokumenten den Strafcharakter der Maßnahmen hervorgehoben haben. Da sich diese Aussage auf die individuellen Tatbestände der Richtlinien bezog, kann auch keine Rede davon sein, daß die Angaben der Landesverwaltung auf eine nur pauschale, plakative (also nicht auf individuelle Schuldvorwürfe gerichtete) Bestrafung gerichtet waren.
Der Volksentscheid vom 30. Juni 1946 hat einerseits die Schuldsprüche und Enteignungsvorschläge der Landeskommissionen (sowie die ohne Schuldspruch ergangenen Enteignungsvorschläge der Sequesterkommissionen) bestätigt und damit rechtswirksam werden lassen und andererseits den Entwurf des Gesetzes über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes in Kraft gesetzt, das automatisch die Enteignung der Unternehmer bewirkte, die infolge der Schuldsprüche der Landeskommissionen auf die Enteignungsliste A geworden sind. Soweit der Volksentscheid damit die Rechtswirksamkeit der vorgeschlagenen Schuldsprüche und Enteignungen bewirkt hat, stellt er selbst ebenfalls eine Strafmaßnahme dar. Dies folgt zwingend aus dem Umstand, daß auch die Bestätigung der Schuldsprüche ihre Rechtsgrundlage in den Richtlinien gefunden haben. Nur soweit er auch Enteignungsvorschläge der Sequesterkommissionen ohne Schuldvorwürfe bestätigt hat, war er verwaltungsrechtlicher Natur. Mit der Darlegung der Kammer, der Volksentscheid habe nur eine „Demokratiebetätigung durch das Volk“ dargestellt, werden seine Inhalte und Rechtswirkungen ohne jede Begründung vollständig ausgeblendet.
Die Kammer hat den Strafcharakter der Aktion des Volksentscheides schließlich mit Absprachen zwischen Stalin und Ulbricht in Moskau vom 2. Februar 1946 zu rechtfertigen gesucht. Sie bezieht sich dabei auf Ausführungen des Zeithistorikers Creutzberger (Klassenkampf in Sachsen, in: Historisch-politische Mitteilungen, Heft 2/1995, S. 119 ff.), der ausführt, dabei sei über eine Enteignungsproblematik gesprochen worden. Diese Aussage aber ist nachweislich unrichtig. In seinem Protokoll vom 2. Februar 1946 hat Ulbricht keinen Auftrag zu einer Enteignung, sondern zu einer „Säuberung“ festgehalten. Dabei handelte es sich nach sowjetischem Rechtsverständnis jeweils um eine Repressions-, also Strafmaßnahme. Daher gab es auch aus Moskau die Vorgabe einer Repression gegen Unternehmer.
Der Zeithistoriker Creutzberger hat zwar außerdem dargelegt, die damaligen Machthaber hätten seinerzeit den (nicht zutreffenden) Eindruck zu erwecken gesucht, bei der Aktion des Volksentscheides habe es sich um eine Strafmaßnahme gehandelt, obgleich davon eigentlich keine Rede hätte sein können. Diese Aussagen des Zeithistorikers (und auch anderer Zeithistoriker) beruhen aber auf dem Umstand, daß ihnen der Erlaß der Richtlinien mit individuellen Straftatbeständen unbekannt war und daß die Maßnahmen ohne diese Rechtsgrundlagen und ihrer Anwendung tatsächlich keine Strafmaßnahme gewesen wäre. Diese Rechtsgrundlagen und ihre Anwendung hat es aber gegeben. Damit sind die Aussagen der Zeithistoriker zu einem fehlenden Strafcharakter der Aktion unrichtig, weil sie auf maßgeblich unvollständigen Fakten beruhen.
Daß mit der Aktion des Volksentscheides auch noch weitere Ziele verfolgt sind, die die Kammer ebenfalls erwähnt (Propagandamaßnahme zur Manifestation zur Vorherrschaft der SED, Friedenssicherung) steht ihrem Strafcharakter nicht entgegen. Der Zweck der Friedenssicherung ist im übrigen ein Zweck der Generalprävention, der allgemein ebenfalls mit Strafmaßnahmen verfolgt wird. Dagegen steht die Behauptung der Kammer, damit auch der Zweck der Sozialisierung betrieben worden, in offenkundigem Widerspruch zu den Zweckangaben in den Richtlinien, die ausdrücklich unterstrichen haben, es handele sich bei der Aktion um keine wirtschaftlichen Maßnahmen.