BGH, Urteil vom 16. März 2012 – V ZR 279/10

Das Urteil betrifft zwei Exponate der 4259 Plakate umfassenden Sammlung, die dem jüdischen Zahnarzt Dr. Hans Sachs 1938 von Mitarbeitern der Gestapo im Auftrag des Reichspropagandaministeriums unter Drohungen in Berlin-Schöneberg, das später zu Westberlin gehörte, entzogen wurden. Dr. Sachs verließ 1938 das Deutsche Reich. Die Sammlung geriet aufgrund der Kriegswirren in den Machtbereich der DDR, was er erst nach Ablauf der rückerstattungsrechtlichen Fristen erfuhr. Rückerstattungsansprüche machte er nicht geltend. Ein Verfahren nach dem Bundesrückerstattungsgesetz endete 1961 mit einem Vergleich, aufgrund dessen er einen Schadensersatz von 225.000.- DM erhielt. 1974 wurde er von seiner Ehefrau beerbt, die 1974 ihrerseits von ihrem Sohn beerbt wurde. Dieser machte für die beiden Plakate „Dogge“ und „Die blonde Venus“ zivilrechtliche Herausgabeansprüche gegen das Deutsche Historische Museum in Berlin geltend.

Wortlaut der Entscheidung

Verantwortliche Richter:  

Prof. Dr. Wolfgang Krüger, Vorsitzender Richter am BGH
Dietlind Weinland, Richterin am BGH
Dr. Bettina Brückner, Richterin am BGH
Dr. Christina Stresemann, Richterin am BGH
Dr. Hans-Joachim Czub, Richter am BGH

Anlaß und maßgeblicher Inhalt der Entscheidung: 

Das Urteil betrifft zwei Exponate der 4259 Plakate umfassenden Sammlung, die dem jüdischen Zahnarzt Dr. Hans Sachs 1938 von Mitarbeitern der Gestapo im Auftrag des Reichspropagandaministeriums unter Drohungen in Berlin-Schöneberg, das später zu Westberlin gehörte, entzogen wurden. Dr. Sachs verließ 1938 das Deutsche Reich. Die Sammlung geriet aufgrund der Kriegswirren in den Machtbereich der DDR, was er erst nach Ablauf der rückerstattungsrechtlichen Fristen erfuhr. Rückerstattungsansprüche machte er nicht geltend. Ein Verfahren nach dem Bundesrückerstattungsgesetz endete 1961 mit einem Vergleich, aufgrund dessen er einen Schadensersatz von 225.000.- DM erhielt. 1974 wurde er von seiner Ehefrau beerbt, die 1974 ihrerseits von ihrem Sohn beerbt wurde. Dieser machte für die beiden Plakate „Dogge“ und „Die blonde Venus“ zivilrechtliche Herausgabeansprüche gegen das Deutsche Historische Museum in Berlin geltend.

Der BGH hat diese Ansprüche bejaht. Er hat zwar erkannt, daß von der Berliner Rückerstattungsanordnung (REAO) erfaßten Vermögensgegenstände nur nach Maßgabe der Bestimmungen der REAO geltend gemacht werden konnten und zwar auch nur innerhalb der dort vorgesehenen Ausschlußfristen. Dies könne jedoch nicht gelten, wenn der Vermögensgegenstand im Zeitpunkt des Ablaufs der rückerstattungsrechtlichen Ausschlußfristen verschollen gewesen sei. Dann werde die Ausschlußwirkung der REAO durch den sie beherrschenden Grundsatz der Naturalrestitution begrenzt. Dies gelte auch trotz des Umstandes, daß Art. 26 Abs. 3 und Art. 27 Abs. 2 REAO auch Ansprüche auf Schadensersatz vorgesehen hätten. Daß diese selbst dann abschließend sein sollten, wenn der Vermögensgegenstand bei Ablauf der rückerstattungsrechtlichen Ausschlußfristen verschollen gewesen sei, ergebe sich aus der REAO aber nicht. Andernfalls hätten die Rückerstattungsbestimmungen dem Berechtigten jede Möglichkeit genommen, die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands zu verlangen und auf diese Weise das nationalsozialistische Unrecht perpetuiert. Dies aber sei mit Sinn und Zweck dieser Bestimmungen, die Interessen des Geschädigten zu schützen, nicht zu vereinbaren.

Warum die Entscheidung unvertretbar ist: 

Die Entscheidung kommt zu einem moralisch sicherlich nachvollziehbaren Ergebnis, steht aber mit geltendem Recht erkennbar nicht in Einklang.

Daß die Rückerstattungsgesetze für verfolgungsbedingte Vermögensschädigungen unter NS-Herrschaft zivilrechtliche Ansprüche vollständig ausgeschlossen haben, hat den auf der Hand liegenden Grund, daß zivilrechtliche Vorschriften nicht auf die Besonderheiten des NS-Unrechts, sondern lediglich auf Störungen des allgemeinen Privatrechtsverkehrs reagieren. Deshalb ist es reiner Zufall, ob eine NS-Unrechtsmaßnahme auch von zivilrechtlichen Bestimmungen als Makel erfaßt werden, der geeignet wäre, zivilrechtliche Herausgabeansprüche zu begründen. Daher begründete ein Rückgriff auf zivilrechtliche Vorschriften eine willkürliche Rückgabepraxis, die dem unter NS-Herrschaft verübten Unrecht in keiner Weise gerecht wird. Dies belegt, daß die Annahme des BGH, der in der Rückerstattungsanordnung vorgesehene Ausschluß zivilrechtlicher Ansprüche gelte nicht in den Fällen der Verschollenheit im Zeitpunkt des Ablaufs der Ausschlußfristen, nicht zutreffend sein kann. Der Grund für die Nichtanwendung zivilrechtlicher Anspruchstatbestände, eine willkürliche Herausgabepraxis zu verhindern, gilt unabhängig von der Verschollenheit des entzogenen Vermögensgegenstandes.

Vergleichbares gilt auch für die Darlegung des BGH, die Wirkung der Ausschlußfristen gelte bei verschollenen Vermögensgegenständen nicht. Die Ausschlußfristen dienten dazu, mit ihrem Ablauf Rechtssicherheit herzustellen, um den künftigen Rechtsverkehr und den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands nicht zu gefährden. Dieser Zweck bestand unabhängig davon, ob Vermögensgegenstände im Zeitpunkt des Fristablaufs vorhanden oder verschollen waren.

Zudem ist es erkennbar unzutreffend, wenn der BGH darlegt, die Rückerstattungsbestimmungen hätten dann dem Berechtigen dann, wenn ihm keine zivilrechtlichen Herausgabeansprüche zugestanden würden, jede Möglichkeit genommen, einen zunächst verschollenen, später aufgefundenen Vermögensgegenstand zurückzuerhalten. Vielmehr konnten Rückerstattungsansprüche auch dann angemeldet werden, wenn deren Verbleib unbekannt war. Dies belegen bereits die Vorschriften in Art. 26 Abs. 3, Art. 27 Abs. 2 REAO, die bei verschollenen Vermögensgegenständen Schadensersatzansprüche begründeten. Mit dem Auffinden des Vermögensgegenstandes hatten Berechtigte dann die Möglichkeit, das Wiederaufgreifen des rückerstattungsrechtlichen Verfahrens mit dem Ziel zu beantragen, die Rückerstattung des wieder aufgefundenen Vermögensgegenstandes gegen Rückgabe des erhaltenen Schadensersatzes zu erwirken. Wird dem Berechtigte, der rückerstattungsrechtliche Ausschlußfristen versäumt hat, in den Fällen verschollener Vermögensgegenstände ein zivilrechtlicher Herausgabeanspruch zugestanden, so wird er ungerechtfertigt gegenüber solchen Berechtigten bevorzugt, die die Ausschlußfristen bei Vermögensgegenständen versäumt haben, deren Vorhandensein bei Fristablauf bekannt war.

Die Zubilligung zivilrechtlicher Herausgabeansprüche birgt zudem die Gefahr einer doppelten Wiedergutmachung in sich. Hat der Berechtigte, wie auch Dr. Sachs, bereits einen Schadensersatz etwa nach dem Bundesrückerstattungsgesetz erhalten, erhält er mit der Herausgabe des wieder aufgefundenen Vermögensgegenstandes eine doppelte Wiedergutmachung, wird also bessergestellt als er vor der Schädigung stand. Trotzdem hat die Rückerstattungsbehörde keine Möglichkeit, den gezahlten Schadensersatz zurückzufordern, weil dafür die notwendigen gesetzlichen Grundlagen fehlen. Daran hat der Gesetzgeber schon deshalb nicht denken müssen, weil er davon ausgegangen ist, daß zivilrechtliche Herausgabeansprüche von den rückerstattungsrechtlichen Vorschriften vollständig verdrängt werden.

Die Entscheidung des BGH hat außerdem zur Folge gehabt, daß der unzutreffende Eindruck entstanden ist, NS-Verfolgten könnten auch aktuell noch zivilrechtliche Ansprüche durchsetzen. Dies hatte auch den unglücklichen Effekt, daß der Gesetzgeber keine Veranlassung mehr gesehen hat, erneut über die Notwendigkeit, Rückerstattungsansprüche einzuräumen, nachzudenken.